Süße Vorlieben

Borgholzhausen als Honigkuchenstadt

Seit 1740 ist Borgholzhausen als Zentrum der Honigwaren- und Lebkuchenherstellung überregional bekannt. Damals zogen Honigkuchenbäcker aus dem benachbarten Dissen im Königreich Hannover ins preußische Borgholzhausen, um von dort aus interessantere Absatzgebiete erschließen zu können. Staats- und Zollgrenzen standen ihnen bis zu jenem Zeitpunkt hinderlich im Wege. Das süße Geschäft florierte. 1783 zählte man in Borgholzhausen sechzehn Bäcker, im benachbarten Versmold dagegen nur sechs. 1817 beklagte sich der Borgholzhausener Pastor über seine leere Kirche. Was war der Grund? Die Honigkuchenbäcker waren auf der Wanderschaft, um ihre Erzeugnisse, die sie in Kiepen auf dem Rücken mit sich trugen, auf Märkten und Messen zum Verkauf zu bringen. Mit ihnen gingen die Frauen und Kinder, so dass ein potenzieller Teil der Gottesdienstbesucher einfach unterwegs war. Verschiedentlich, so wird berichtet, schlugen Mann und Frau zur Vergrößerung des Umsatzes getrennte Stände auf, wobei fast immer - wen wundert es - der weibliche Teil die größeren Einnahmen zu verzeichnen hatte. Auf den Markt- und Rummelplätzen waren die Borgholzhausener Kuchenbäcker mit ihren süßen Angeboten stets ein Hauptanziehungspunkt für Groß und Klein. Die Nachfrage stieg zusehends. 

Noch vor gut einhundert Jahren lebten in Borgholzhausen elf Honigkuchenbäcker mit ihren "Pfefferküchlereien" von der Süßwarenherstellung. 

Vor allem auf dem "Send" in Münster waren Borgholzhausener Honigkuchen stets präsent. Dreimal im Jahr jeweils für fünf bis zehn Tage, erfreuten sich die ostwestfälischen Süßwarenanbieter dort großer Beliebtheit. In den mittlerweile vergrößerten Verkaufsständen wurden, etwa von der Firma Schulze, die "Borgholzhausener Honigwaren" und die "Ravensberger Lebkuchen" feilgeboten. Zu Schulzes Stammkunden zählte neben dem Münsterländer Adel auch Professor Landois, der überaus populäre, weil immer plattdeutsch sprechende Gründer des Münsteraner Zoos. Der recht beleibte Herr hatte sich im Inneren seines Mantels eigens eine Tasche zur Aufnahme der Leckereien einnähen lassen. Nachdem er sie sich mit Lebkuchen hatte füllen lassen, begab er sich wieder, so wird in den 20er Jahren von Wilhelm Knehans geschildert, "den Zylinder freundlich lüftend, etwas wohlbeleibter als vorher, in den Markttrubel hinein." 

Zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts gingen armutshalber noch viele Borgholzhausener Männer zur Saisonarbeit im Sommer nach Holland. Von dort brachten die so genannten Hollandgänger neue Rezepte und Anregungen zur Abwandlung und Verfeinerung der Backwaren mit. Fortan gab es für die Leckermäuler auch "Biskes", abgeleitet von den Biskuits, einem zweifach gebackenen Feingebäck (auf deutsch: Zwieback), das von Frankreich über Holland nun in die Backstuben des Teutoburger Waldes gelangt war. Auch der Zuckerguss kam verschönernd hinzu. Mit den bunten Verzierungen entwickelten sich die Bäcker nach und nach zu Konditoren. Die ersten mit Inschriften versehenen Herzen kamen auf. Nun hatte der jugendliche (oder jung gebliebene) Liebhaber während des Kirmesbummels die süße Gelegenheit, der Angebeteten seine Zuneigung durch ein verlockend rotes und hübsch verziertes Kirmesherz Ausdruck zu verleihen. Eine verhaltene Liebesbekundung etwa lautete: 

"Gedenke nah, gedenke fern, gedenke meiner oft und gern. Gedenke stets zu jeder Frist, wie Du von mir geliebet bist." 

Sofern Liebesgrüße auf Papier das Herz zierten, wurden diese von den weiblichen Beschenkten abgelöst und zum Andenken auf den Innendeckel der Aussteuerlade geklebt. Viele "Mausis" und "Schnuckis" sind seitdem mit einem Borgholzhausener Lebkuchenherz beglückt worden. 

Hergestellt wurde der Honigkuchen, indem man Honig und Sirup in einem großen kupfernen Kessel kochte und in die etwas abgekühlte Masse Weizenmehl hineinrührte, bis ein steifer Brei entstand, der im Backtrog oft monatelang aufbewahrt wurde, um nach Bedarf verarbeitet zu werden. Da der Teig sich allmählich immer mehr erhärtete, konnte man ihn mit den Händen zunächst nicht mehr kneten, sondern zermürbte ihn auf einer dazu hergestellten Bank mit einem vierkantigen Hebel. Mit Alaun wurde der Teig dann, nachdem er mit den nötigen Gewürzen versehen war, zum Aufgehen gebracht. Wer nicht im Besitz eines eigenen Backofens war, backte bei seinem Nachbarn. 

Die Verfügbarkeit des Honigs war eine wichtige Voraussetzung. Im Ravensberger Land war die Imkerei sehr bedeutend; der noch heute bestehende Ravensberger Imkerverein ist einer der ältesten und größten der ganzen Region. Es gab viele Bienen, weil viel Flachs angebaut wurde, eine Faserpflanze, die als Rohstoff für die auch in Borgholzhausen sehr verbreitete Leinenherstellung diente. Nach der weitgehenden Einstellung der Leinenherstellung ging auch der Flachsanbau und damit die Honigproduktion zurück. Fortan musste der Honig in der Lüneburger Heide und in Holland eingekauft werden. Die von Heinrich Schulze gegründete "Teutoburgerwald-Honigzentrale" ersteigerte den süßen Rohstoff in allen wichtigen Erzeugergebieten. Interessant ist auch folgender Zusammenhang zwischen der Leinen- und der Honigwarenherstellung: Die Firma Schulze dehnte sich nach dem Ende des 2. Weltkrieges mit ihren Backöfen in die Produktionsräume der ehemaligen Segeltuchweberei Helling aus, die bereits vor 1914 ihren Betrieb wegen mangelnder Rentabilität hatte einstellen müssen. Die alten Betriebsgebäude, in denen einst große mechanische Webstühle ratterten, sind 1997 leider einem Brand zum Opfer gefallen. 

Allein die Firma Schulze, die heute ihre Produkte unter dem Markennamen "von Ravensberg" anbietet, ist von den vielen kleinen Lebkuchenbäckereien übriggeblieben. Sie führt damit eine jahrhundertealte Tradition fort, die Borgholzhausen als Honigkuchenstadt international bekannt machte. Das ist durchaus zukunftsträchtig, denn süße Vorlieben wird es immer geben

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